Ein andermal weitete da oben ein Schäfer seine Herde.
Plötzlich fühlte er den Boden unter seinen Füßen wei-
chen und sich hinabsinken in ein großes, unter-
irdisches Gewölbe. Als er des Abends nicht zurück-
kehrte, fand man bei Nachforschen die
Schafe überall zerstreut und den Hund
winselnd vor der Öffnung, durch welche
sein Herr verschwand. Man glaubte schon,
es sei ihm etwas zugestoßen und war deshalb froh,
als auf das Rufen eine schwache Stimme von unten
Antwort gab. Mit Hilfe eines langen Seils gelang es, ihn
wieder herauf zu ziehen. Er erzählte: Da unten war ich in
einem großen Gewölbe, das nur spärlich erleuchtet war.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt
hatten, sah ich in einer Ecke ein
großes Fass und daneben zusammen-
gekauert ein kleines Männlein. "Wer bist du ? Was
machst du da ?" sagte ich und ging auf es los. Mit großen erstaunten Blicken sah es mich an, trippelte einige Schritte zurück und lachte. Es schien um das Fass sehr besorgt zu sein.
Einige beherzte Männer, die neugierig waren, was wohl in dem Fasse sein könnte, kletterten an Stricken hinab in die Tiefe. Sie fanden es so wie es der Schäfer erzählt hatte: Das Fass aber war voll des schönsten Weines. Mit dem Männlein versuchten sie auch zu sprechen. Es war aber nichts aus ihm herauszubringen. Ängstlich kauerte es sich in eine Ecke und lachte in einem fort. Sie packten und banden es und ließen es am Stricke hinaufziehen. Dann kletterten sie hinterher.
Und der Zwerg? Immer wieder suchte er zu entwischen. Mit vieler Mühe und Not zerrte man ihn nach Reichensachsen und setzte ihn dort in das Gerichtsgefängnis. (Reichensachsen war damals Hauptort des Boyneburgschen Gerichtes.) Man untersuchte die Sache gerichtlich. Man folterte ihn. Es war nichts aus ihm herauszubringen. Es blieb zuletzt nichts anderes übrig, als ihm die Freiheit wiederzugeben. Was tat das Männlein, als es sich wieder frei sah ? In großer Hast trippelte es nach den Ruinen der Boyneburg, war im Nu durch die Öffnung verschwunden, durch die es an die Oberwelt gelangt war. Seitdem hat man von dieser Öffnung nie wieder etwas gesehen.
So rankt sich um die Reichsfeste ein Kranz von Sagen. Wer sie einmal besucht, kann sich des geheimen Zaubers nicht erwehren, der von ihr ausgeht. Die Burg sank dahin, die einst belebte Straße zu ihren Füßen ward einsam. Beide predigen das Wort von der Vergänglichkeit. Was aber lebendig geblieben und sich auf den heutigen Tag von Mund zu Mund fortgepflanzt hat, das ist die Sage, "die ewigfrische Blüte am Baume der Volkspoesie", welche die altersgrauen Steine mit Leben erfüllt und uns unsere Heimat erst lieb und wert macht.



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