Bei Breitau liegt eine Anhöhe, welche der Stein heißt. Dort
befindet sich eine Kalksteinhöhle, im Volksmund kurz
"Steinhöhle" genannt. Die Sage erzählt, dass die Be-
wohner Breitaus im Dreißigjährigen Kriege hier vor
den Grausamkeiten wilder Soldatenhorden
Schutz gesucht haben und dass sie der
Ausgangspunkt eines unterirdischen
Ganges von der Boyneburg her sei. Nie-
mand hat bisher den Mut aufgebracht, tiefer in die
Höhle einzudringen. Wie es aber einigen Jungen da-
rin ergangen ist, welche vor vielen, vielen Jahren das
Innere auskundschaften wollten, davon weiß die Breitauer
Schulchronik etwas zu berichten. Diese spielten einst
am Stein und fanden bei dieser Gelegenheit den
Eingang zur Steinhöhle. Das war ein
feines Versteck. Einer kroch hinter
dem anderen her, und so gelangten sie in das Innere
der Höhle. Das war groß und geräumig, aber auch dunkel. Die Neugierde aber besiegte die Furcht vor der Finsternis, und so tappten sie, einer sich am anderen festhaltend, mutig in das Innere vor. Je weiter sie aber kamen, desto dunkler wurde es, und umsomehr wuchs auch wieder ihre Angst. Zuletzt mochten sie doch nicht weiter. Also zurück ! Aber o Schreck ! Sie fanden den Ausgang nicht wieder. Sie tappten und suchten, weinten und schrieen um Hilfe. Es half alles nichts. Sie waren gefangen.
Sie kamen in einen schmalen Gang. Neue Hoffnung, einen anderen Ausweg zu finden, überkam sie. Plötzlich stießen sie auf eine schwere eiserne Tür. Sie standen erst ein Weilchen davor, dann klopften sie - und krachend tat sie sich auf. Ein altes Männlein mit einem langen, weißen Barte stand vor ihnen. Eine Zwergmütze hatte es auf und eine klein Laterne in der Hand. "Wer stört unsere Ruhe im tiefen Schoß der Erde ?" fragte es mit heller Stimme. Dabei wackelte es mit dem Kopfe und dem Barte. Die Kinder waren vor Schreck starr und verkrochen sich. Zuletzt aber fassten sie doch Zutrauen zu dem kleinen Alten, und der Beherzeste erzählte ihm schluchzend ihr Not. "Kommt", sagte er nur und winkte mit der Hand. Langsam schritt er voran, scheu folgten die Kinder. Dabei hielten sie sich gegenseitig an den Rockschößen fest.
Sie kamen in einen hohen geräumigen Saal. Der war hell erleuchtet und prächtig geschmückt. An der Decke hingen lange Zapfen, die im Lichtschein glitzerten und funkelten. Glashelle Perlen rannen von Zeit zu Zeit an ihnen herunter, die, wenn sie auf den Boden aufschlugen, mit einem feinen hellen Klang zersprangen. Und jedes Mal hüpfte dann ein winziges Fischlein heraus, das hurtig von den Zwergenkindern gefangen und in einen Becher getan wurde.
Gängen im dunklen Schoß der Erde zu sehen war, ließ sie die Sehnsucht nach der Welt über der Erde und nach den Eltern vergessen. Aber bald bekamen die Jungen doch Heimweh, und sie baten den Alten, dass er sie wieder gehen lassen und ihnen den Weg nach Hause zeigen möge. "Ich hätte euch gern für immer bei mir behalten", so sagte er und wackelte dabei wieder mit dem Barte, "aber ich habe schon gesehen, dass ihr Heimweh habt und dass eure Eltern sich um euch grämen. Ich will euch nicht länger halten. Bevor ich euch jedoch nach oben führe, will ich euch etwas schenken." Dann ging er in die Ecke und holte den Becher mit den Fischlein, nahm eine goldene Nadel, stach sich damit in die Hand und ließ die Blutstropfen in den Becher fallen. Dann nahm er eine silberne Zwergschere, schnitt jedem Jungen ein paar Haare ab und tat sie auch in den Becher. Und siehe da, die Blutstropfen zerteilten sich und setzten sich an die Fischlein, und die Härlein wurden lebendig und schwammen als winzige Würmlein lustig im Wasser umher. Staunend sahen die Kinder zu.
"Diesen Becher" , so fuhr nun der Alte fort, "gebe ich euch als Andenken mit. Es ist ein Glücksbecher, und ihr werdet später durch ihn reich und glücklich werden, so lange ihr die Tierlein darin pflegt und gut behandelt. Wer sich aber an den Fischlein mit den roten Tupfen vergreift, der wird vom Unglück verfolgt und bekommt rote Tupfen ins Gesicht. Und wer den lebendig gewordenen Härlein, die ganz schnell wachsen und groß werden, etwas antut, wird krank und bekommt Magenschmerzen. Nehmt den Becher fein in acht, bringt ihn euren Eltern und behandelt die Tierlein gut."
Die Kinder versprachen alles zu tun. Sie nahmen Abschied, der Alte steckte seine Laterne an, winkte und ging bedächtig voran. Die Eisentür tat sich wieder auf, und bald standen sie draußen vor dem Eingang der Höhle. Der Alte war plötzlich verschwunden. Nun waren sie wieder auf Gottes schöner Erde. Wie die Sonne so herrlich schien, die Blumen so bunt leuchteten, die Vöglein so lustig sangen ! Und sie selbst ? Wie sahen sie eigentlich aus ? Sie kannten sich bald nicht wieder ! Neue, wunderschöne Kleider hatten sie an, grüne Jacken mit Perlmutknöpfen und blauen Hosen. Nur ihre Haare waren feuerrot geworden, das gefiel ihnen nicht. Und drunten lag auch ihr Dörflein Breitau.
Im Sturmwind liefen sie den Berg hinunter. Was Vater und Mutter wohl sagen würden? Im Wiesengrund zwischen Erlen und Weiden floss das silberne Dorfbächlein. Sie standen davor und beschauten sich den Wasserspiegel. Sie klatschten in die Hände, lachten und hüpften vor Freude. Dabei aber glitt der Junge, welcher den Glücksbecher trug, aus und fiel ins Wasser. Schnell zogen ihn die anderen heraus, aber - der Becher war leer. Fischlein und Würmlein tummelten sich jetzt im Wasser des Baches. Wohl griffen die Kinder hastig danach, um sie zu haschen. Aber nicht eines erwischten sie. Die Fischlein mit den roten Tupfen schossen blitzschnell davon und die Würmlein waren ganz plötzlich lang und dick und so glatt geworden, dass sie ihnen jedes Mal wieder aus der Hand rutschten.
Da standen die Jungen ganz traurig mit ihrem leeren Glücksbecher. Einer riet, nochmals in die Höhle zu dem guten Alten zu gehen und ihn um neue Fischlein und Würmlein zu bitten. Sie stiegen den Berg hinauf und kamen an die eiserne Tür, klopften wieder und erzählten dem alten Zwerg ihr Missgeschick. Der Wackelte wieder mit dem Kopf und dem Barte, machte ein böses Gesicht und ließ die Kinder nicht wieder fort, weil sie ungehorsam gewesen waren.
Die Eltern der Kindern grämten sich lange, weil ihre Kinder spurlos verschwunden waren und nimmer wiederkehrten. Sie glaubten, Zigeuner hätten sie mitgenommen. Die Fischlein im Wasser mit den roten Tupfen aber hätten es ihnen sagen können. Die wuchsen und wurden bald große Fische. Die Menschen sahen sie im klaren Wasser des Bächleins, fingen und aßen sie, weil sie so gut schmeckten. Die Warnung des alten Zwerges aber kannten sie nicht und so Kommt es, dass die Fänger dieser Fischlein weder reich noch glücklich, dahingegen aber sommerfleckig wurden. Die anderen Tierlein vermehrten sich auch sehr schnell. Jedoch selbst die gelehrten Männer, die Brillen tragen, wissen heute noch nicht, woher sie kommen, denn diejenigen, welche das Geheimnis hätten sagen können, sind heute noch bei dem alten Zwerg in der Steinhöhle zu Breitau.



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