Auf dem Wege zwischen Breitau und Ulfen steht bei der so-
genannten Kratzhecke ein flechtenumwucherter, kreuz-
förmig zugehauener Stein, der auf seiner Vorderseite
eine herausgemeißelte Axt zeigt. Die Tiere des Wal-
des wechseln hier oft zu nächtlicher Stun-
de und erscheinen einsamen Wanderern
als gespenstische Wesen. Abergläubische
und schreckhafte Leute glauben deshalb,
es ginge hier um. Der Stein am Wege ist der Schluß-
stein einer blutigen Dorfgeschichte, die sich vor vie-
len Jahren im Ulfetal zutrug. Durch das schmale Wiesen-
tal der Ulfe führt die sächsische Nebenstraße, auch Nürn-
berger Straße genannt. Hügelauf, hügelab windet
sie sich auf der einen Bergseite, deren Gestein
den Ringgau verrät, durch Breitau
und Ulfen hinauf über die Wasser-
scheide ins Tal der Werra bei Gerstungen. Ein kleines
Bächlein, von schattenkühlen Erlen und Weiden begleitet, läuft unten in der Mitte der Talmulde neben der Straße her. Vor hundert und mehr Jahren, ehe der Dampfwagen an Hoheneiche und Sontra vorbei nach Bebra rollte, war es auf dieser Straße kaum einsamer wie heute.
Es herrschte auf ihr ein ähnlicher Verkehr wie auf der Straße durch den Süllingswald. Da knarrten die großen und kleinen Lastwagen der Händler und Kaufleute, knallten die Peitschen der Fuhrleute, klangen die lustigen Weisen des Postillions, da lagen Breitau und Ulfen nicht in einer vergessenen Ecke, sondern waren wichtige Stationen im Völkerverkehr. Das verrät noch heute ihre Größe. Um nun die schweren Wagen über die steilen Bergköpfe hinwegzubringen, mußten die Bauern von Breitau und Ulfen immer vorspannen. Sie verdienten sich nebenher die paar Groschen recht und gern; denn der kärgliche Kalkboden ihrer Äcker warf sehr wenig ab. Zu Ende des 18. Jahrhunderts lag das Geschäft des Vorspannens in Breitau in den Händen der Familie Bodenstein, die zu diesem Zwecke 25 Pferde im Stall stehen hatte.
Der Bauer, welcher in Ulfen immer vorspannte, hieß ebenfalls Bodenstein. Es ist weiter nicht verwunderlich, wenn sich zwischen beiden Familien im Laufe der Zeit eine Art Geschäftsneid herausbildete. Aber der Neid ist Eiter in den Beinen, und es blieb zuletzt nicht nur dabei, daß einer den anderen scheel ansah, wenn er ihm Geschäfte wegnahm und den Verdienst zu kleinern versuchte.
In Breitau spielten die Musikanten zur Kirmes auf. Man tanzte, sang und war fröhlich. Aber der Hader schlief unter der Asche und fing an zu glühen, als die Ulfener Burschen und Mädchen als Kirmesgäste erschienen. Bodensteins Ältester hatte seinen Kirmesschatz, die Martliese mitgebracht. Das war aber gerade die, auf welche auch der Älteste der Breitauer Bodensteinschen Familie ein Auge geworfen hatte. Zu dem Feuer des Hasses kam nun noch das Feuer der Eifersucht. Als man nun dem Schnaps und Bier tüchtig zugesprochen hatte, gerieten die Nebenbuhler hart aneinander, was zu einer wüsten Schlägerei zwischen Breitau und Ulfen ausartete. Wo immer Breitauer und Ulfener Burschen sich nun treffen mochten, da gingen sie nicht auseinander, ohne sich die Köpfe blutig geschlagen zu haben. Der nachbarschaftliche Frieden war und blieb durch dieses gehässige Treiben vergiftet, und das lag wie eine wuchtende Last auf beiden Gemeinden.
Die Zeit des Holzholens war gekommen; Breitauer und Ulfener rüsteten die Wagen zur Fahrt in den Holzwald. Hitze und Fliegen zwangen zur Waldfahrt bei nächtlicher Kühle. Eines Nachts trieb ein aufkommendes Unwetter zu eiliger Rückkehr. Der Wald erhob sein ernstes Rauschen. Die schwankenden Zweige und Ruten der Pappeln an der schmalen Landstraße peitschte der Wind in zischend pfeifendem Rauschen, und dumpfes Donnergrollen erschütterte das Tal.
Zwei Fuhrwerke rasen in hastiger Eile auf der Landstraße dahin, um vor Ausbrechen des schweren Unwetters unter schützendem Dache zu sein. Die Pferde stocken beim Kreuzen. Große Vorsicht ist beim Ausweichen notwendig, denn links hintern sie die großen Kalkwände und rechts droht der Abhang zur Ulfe. Da erhellt ein Blitzstrahl den dunklen Weg. Die beiden Fuhrleute haben sich erkannt: Jeder hat seinem Todfeinde ins Angesicht geschaut. Ein Ausweichen ? Nimmermehr ! Prasselnd sausen die Peitschenhiebe auf die Pferde, und hart rennen beide Fuhrwerke aufeinander. Die Pferde scheuen, bäumen sich, schlagen aus.
Beide Wagen hängen fest. Derbe Flüche und Schimpfworte verschlingt der Sturm. Im Nu sind beide Fuhrleute abgesprungen und gehen mit der langen Holzaxt aufeinander los. Wild schwingen sie die gefährliche Waffe in ihren Händen. Keiner denkt an Deckung. Wieder durchzuckt ein Blitz die Nacht. Im grellen Aufleuchten sehen sich beide Todfeinde dicht gegenüber, sausen die scharfen Äxte durch die Luft, und jeder von beiden sinkt durch den Axtschlag des anderen mit zertrümmertem Schädel zu Boden. Mit Donnern und Krachen fegt das Unwetter vorüber, und die aufsteigende Morgenröte leuchtet mit ihrem fahlen Schein auf das Ende des Dorfdramas.
Am anderen Morgen fand man die Leichen neben ihren Fuhrwerken. Was bedurfte es noch einer weiteren Aufklärung? In Breitau und Ulfen kannte man die Ursache und ahnte man den Verlauf des nächtlichen Streites, der zwei junge Menschen aus dem Haß in den Tod getrieben hatte. Der Pfarrer versagte ein christliches Begräbnis. Deshalb begrub man sie an der Stelle ihrer Tat. Über dem Grabe ihrer Kinder reichten sich die schwergeprüften Väter die Hand zur Versöhnung, und wenn sich im Frieden des Abends die Mütter an der Stelle trafen, die das Blut ihrer Söhne getrunken hatte, dann schmolz der Haß unter der Flut ihrer Tränen und der Macht des gemeinsamen Schicksals. Im Tode ruhten ihre Kinder friedlich zusammen; darum setzten beide Familien jenen Stein zum Andenken, der auch jedem vorübergehenden eine ernste Mahnung sein sollte.
Die Leute von Breitau und Ulfen aber gingen nun mit einem Gefühl der Erlösung ihres Weges. Denn beide Dörfer waren von einem Fluche erlöst und hatten wieder Ruhe und Frieden gefunden. Der Stein an der Kratzhecke hat die vielen Jahre seither überstanden, er steht noch heute. Wer auf der Bundesstraße 400 von Ulfen nach Breitau fährt kann ihn, etwa auf halber Wegstrecke, auf der rechten Straßenseite, zum Teil verdeckt durch Leitplanken, bewundern. Noch besser sieht ihn der Radfahrer, der den Radweg zwischen Ulfen und Breitau befährt.



Nutzerhinweis:
Klicken Sie in der obigen Auflistung auf die Sage oder Erzählung. So gelangen Sie zur nächsten Sage.

Diese Webseite ist für den | Internet Explorer 7.0/8.0 | Firefox 3.x | Opera 9.x | Safari 4 | mit einer Auflösung von 1024 x 768 px optimiert.
Um die optimale Darstellung zu erhalten, verwenden Sie bitte einen der oben genannten Browser.